Als eine Seefahrt zum Vergnügen wurde – Wie vor 110 Jahren der Luxusliner „Amerika“ der Hapag das Reisen auf See veränderte
Die „New York Times“ brachte es auf den Punkt: „Mit der Jungfernreise dieses Schiffes verschwindet nahezu der letzte Unterschied zwischen dem Leben auf einem Ozeanliner und dem in einem erstklassigen Hotel.“ Der Luxusliner, der am 20. April 1905 für die Hapag in Belfast vom Stapel lief, setzte Maßstäbe. Nicht nur für Komfort, sondern vor allem für sensationellen Erfolg. Weil man mit ihr Zeitgeist und Kundenwünsche voraus nahm.
Dabei hatte dieses Schiff als geschäftliches Wagnis gegolten. Denn es war ein Bruch mit dem, was bis dahin Erfolgsrezept auf der hart umkämpften Nordatlantikroute gewesen war. Rekordgeschwindigkeit hieß Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Motto für die Reedereien. Schnelldampfer waren Trumpf, das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung westwärts galt als die beste Werbung. Man sprach vom „Jahrzehnt der Deutschen“. Denn die siegreichen „Rennpferde zur See“ kamen aus Bremen oder Hamburg, vom Norddeutschen Lloyd oder von der Hapag. 1900 hatte die „Deutschland“ die begehrte Trophäe nach Hamburg geholt und war entsprechend gefeiert worden.
Einer jedoch war mit diesem Spitzenschiff nie glücklich geworden: Hapag-Direktor Albert Ballin. Er hatte schon im Direktorium gegen den Bau eines derart großen Schnelldampfers gestimmt, dabei seine einzige Niederlage hinnehmen müssen – und, wie sich zeigte, am Ende Recht behalten. So spektakulär wie die „Deutschland” war, als so unwirtschaftlich erwies sie sich auch. Die Rekordgeschwindigkeit hatte ihre Nachteile: Die „Deutschland“ war nicht nur pannen- und reparaturanfällig, sie verbrauchte täglich 574 Tonnen Kohle. Einen Schnelldampfer wie sie von 20 auf die Höchstgeschwindigkeit von 23 Knoten zu beschleunigen, verschlang eben so viel Brennstoff wie von null auf fünfzehn Knoten. Auf den hochgezüchteten, schmalen „Windhunden“ musste zugunsten der schnittigen Form mit jedem Quadratzentimeter Platz gespart werden, und die gewaltigen Maschinen vibrierten so sehr, dass die „Deutschland“ vom Publikum abfällig als „Cocktailshaker“ bezeichnet wurde. Ein PR-Problem, denn eine Überfahrt, die die Passagiere seekrank in der Kabine verbringen mussten, selbst in der First Class, machte alles andere als Spaß: Sie war ein notwendiges Übel.
Genau das war aber das Image, von dem Albert Ballin die Seefahrt befreien wollte. Mit der Erfindung der modernen Kreuzfahrt war er bereits sehr erfolgreich gewesen. Die Hapag hatte erlebt, wie sehr ein verwöhntes Publikum Komfort an Bord zu honorieren bereit war. Einen Komfort, den die Hapag nun auch auf der Nordatlantikroute anbieten wollte – auch auf Kosten der Rekordgeschwindigkeit. Als abzusehen war, dass das Geschäftsjahr 1904 für die Reederei besonders erfreulich ausfallen würde, entschloss sich ihr Direktor zu einem Experiment. Die britische Konkurrenz, die White Star Line, hatte schon Erfolg mit besonders komfortablen Linern gehabt. „Gerade in den besten Kreisen des ozeanfahrenden Publikums“, hieß es im Hapag-Geschäftsbericht von 1903, „ist die Zahl derer in beträchtlicher Zunahme begriffen, die nicht mehr das entscheidende Gewicht auf Geschwindigkeit legen, sondern diejenigen Dampfer bevorzugen, deren Einrichtung, Ausstattung und Bauart den Aufenthalt an Bord zu einem möglichst behaglichen gestalten.“ So gab die Hapag ihren ersten „schwimmenden Palast“ bei der White Star-Hauswerft in Auftrag: bei Harland & Wolff in Belfast.
Die 22.225 BRT große, 213 Meter lange „Amerika“ war schon äußerlich ein glatter Bruch mit dem „Rennpferde zur See“-Konzept. Das Markenzeichen der Schnelldampfer waren vier Schornsteine, die neue „Amerika“ hatte nur zwei. Sie war ein vergleichsweise behäbiger Liner, dessen Kessel nur halb so viel Kohle verbrannten wie die der Schnelldampfer. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 17,5 Knoten benötigte sie für die Atlantiküberfahrt einen bis zwei Tage mehr als die Rekordhalter. Im Innern übertraf sie dafür alles, was bis dahin auf See angeboten worden war. Sie war beispiellos geräumig, und ihr großzügiges Interieur überwiegend im Art Nouveau gehalten, im eben in Mode kommenden Jugendstil. Es gab einen Personenfahrstuhl, einen Wintergarten voller Palmen, und, als sensationelle „Novität“, ein Ritz-Carlton Restaurant, dessen Personal eigens in Paris geschult worden war. Die Küche unterstand Auguste Escoffier, dem „König der Köche“ – ein Luxus, der für die Reederei seinen Preis hatte. Die Küchenchefs gehörten zu den Spitzenverdienern an Bord, mit einem Salär weit höher als das der Offiziere. Ballin hielt das für gut angelegtes Geld: „Kapitäne gibt’s genügend – einen guten Koch zu finden, ist da schon bedeutend schwieriger.“
Die Hapag verfolgte mit der „Amerika“ noch ein weiteres Ziel: Verwöhnt wurden eben nicht nur die First Class-Passagiere, es gab erschwinglichen Luxus für alle. Auch den Auswanderern wurde, neben deutlich besserem Service, eine Neuerung geboten, die sich bald weltweit durchsetzte: eine zusätzliche dritte Klasse. Die Emigranten konnten gegen einen geringen Aufpreis Sechsbettkabinen buchen – ein entscheidender Schritt weg von den Massenquartieren, die auf den engen Schnelldampfern üblich waren. Aus dieser Neuerung entstand später die Touristenklasse.
Jeden zusätzlichen Tag auf See sollten alle Passagiere nicht als Verzögerung, sondern als Geschenk erleben – dieses Konzept der Hapag ging auf. Die „Amerika“ war von Anfang an ein Riesenerfolg, die Atlantiküberfahrt als gesellschaftliches Ereignis endgültig etabliert, „Man freute sich auf die Seefahrt wie auf ein schönes geselliges Erlebnis, „wie es so gedrängt reich und mannigfaltig an Land kaum zu erleben war“, durfte denn auch die Reederei vermelden. Und weiter: „Die Frage nach der Dauer der Überfahrt trat hinter die Frage nach ihrer Annehmlichkeit zurück, und so hatte die Hamburg-Amerika Linie volle Schiffe, ohne dass sie es nötig hatte, einen unverhältnismäßig großen Teil ihrer Passageeinnahmen unter den Kesseln allzu gewaltiger Maschinen verbrennen zu lassen.“
Die „Amerika“ und ihr 1906 in Fahrt gekommenes Schwesterschiff „Kaiserin Auguste Victoria“ zogen Kunden von beiden Seiten des Atlantiks an. Unter ihnen nicht nur Adel und Geldadel, sondern eine neue Klasse von Prominenten: die Showstars ihrer Tage, wie etwa der gefeierte Wiener Komponist und Dirigent Gustav Mahler. „Morgen gehe ich aufs Schiff – herrliche Zeit“, freute er sich in einem Brief, und sein Lieblingsschiff war die „Amerika“. Als Mahler 1911 in New York schwer erkrankte, wagte seine Familie es nur, ihn nach Europa zurückzubringen, weil die „Amerika“ optimalen Komfort anbot, einen abgeschlossenen Teil des Promenadendecks inklusive, auf dem der kranke Maestro vor neugierigen Blicken geschützt wurde.
Mit dem zwanzigsten Jahrhundert begann auch die Epoche von Sport und Unterhaltungsindustrie, die ihre eigenen Stars und Sternchen hervorbrachten. Bald standen Fotografen und Interviewer für sie Spalier, wenn einer der großen Liner in New York einlief. 1905 aber, als die „Amerika“ in Fahrt kam, war das Schiff der Superstar, den Tausende im Hafen begrüßten und bestaunten – dieses ganz besonders.