Gut geschult, bestens versorgt: Alle fünf Jahre müssen Seeoffiziere ihre medizinischen Kenntnisse auffrischen – auch das Training mit dem Defibrillator gehört dazu. Denn wenn der medizinische Notfall eintritt, muss jeder Handgriff sitzen.
Der Mann im schwarzen Pullover taumelt herein, schaut verwirrt. Rücklings stürzt er auf eine Liege. Obwohl jeder im Raum weiß, dass es sich um eine Übung handelt, ist die Stimmung angespannt. „Bodycheck“, ruft Roland Henseler. Ohne zu zögern untersuchen er und die anderen Seminarteilnehmer den Patienten. Der ist Thomas Krieg und zugleich ihr Dozent im Training „Notfallmedizin an Bord“ am Maritimen Compentenzcentrum in Hamburg.
Die kleine Gruppe folgt einem festen Fünf-Punkte-Programm. Sorgfältig, aber zügig wird der Körper abgetastet und von Kopf bis Fuß auf Blutungen und gebrochene Knochen untersucht. Roland Henseler stellt sich ans Kopfende und kontrolliert die Grobmotorik des Patienten. Er legt seine Hände in die des Dozenten und fordert ihn auf, mit gleicher Kraft zu drücken. Die Feinmotorik kontrollieren die Teilnehmer, indem sie über die Handflächen des Dozenten streichen und so dessen Reflexe prüfen.
Nächster Punkt: Kann der Patient seine Beine bewegen?
Roland Henseler, der die Gruppe während des Bodychecks führt, ist Erster Offizier und seit zehn Jahren bei Hapag-Lloyd. Um seine medizinischen Kenntnisse aufzufrischen und im Notfall bereit zu sein, besucht der 37-Jährige alle fünf Jahre ein Medical Care Training.
Für Offiziere auf Schiffen von Hapag-Lloyd ist das Vorschrift. Das Training, das Leben retten kann, dauert vier Tage. Keiner der Seminarteilnehmer startet hier bei Null. Roland Henseler beispielsweise hörte Medizinvorlesungen während des Nautikstudiums und absolvierte ein Praktikum in einer Notaufnahme.
„Tommi, bist du da?“ – Roland Henseler spricht den Patienten immer wieder an. „Zur Rettung gehört auch Kommunikation“, hatte Thomas Krieg zuvor erklärt. Nun tut er so, als ob er kaum ansprechbar sei. Beim vierten Schritt legen die Teilnehmer am Arm des Seminarleiters einen Venenzugang. Anschließend nehmen die Seeleute die Werte für Atemfrequenz, Puls, Blutdruck und Blutzucker auf.
Der Patient macht es den Seeleuten nicht einfach. Mittendrin spuckt er sogar Theaterblut aus und gibt den Hinweis: „Das kommt aus der Lunge.“
Thomas Krieg fuhr jahrelang als Kapitän und Ausbilder zur See. Er war derjenige, der 1988 erstmals EKG-Daten von Bord eines Schiffes – der „Humboldt Express“ – via Satellit zum Funkärztlichen Dienst nach Cuxhaven sandte. Jetzt gibt er der Gruppe Feedback zu seiner Rettung. „Meine Blutdruckwerte waren konstant, die Atmung hat sich im Laufe der Versorgung stabilisiert. Das Blut, das ich gespuckt habe, kam vermutlich aus der Lunge. Ich habe offensichtlich eine Chemikalie eingeatmet. Das Mittel, das die Gruppe mir pro forma verabreicht hat, war die richtige Entscheidung.“
Mit der Gruppe um Offizier Henseler ist er sehr zufrieden: „Wichtig ist, dass einer am Kopfende steht und die Ansagen macht. Der Ablauf hier war ausgezeichnet. Besser kann ein Patient in der Situation nicht versorgt werden.“
Als Nächstes sollen die Teilnehmer das Nähen von Wunden trainieren. Die Nadelstiche, die Henseler setzt, sind routiniert. „Ich sehe schon, dass du das nicht zum ersten Mal machst“, so Krieg.
Wenig später widmen sie sich einem weiteren Schwerpunkt: Neben der notfallärztlichen Untersuchung fällt auch die Verantwortung für die Bordapotheke in die Zuständigkeit der Offiziere. Mindestens alle drei Monate sind sie mit der Inventur der Bestände beschäftigt.
Wie die Apotheke an Bord eines Schiffes auszusehen hat, präsentiert nicht einmal zwei Kilometer Luftlinie entfernt Hendrik Müller, Erster Offizier an Bord der „Antwerpen Express“. Das 13.200-TEU-Schiff hat in Hamburg-Altenwerder festgemacht. Die Hapag-Lloyd-Schiffe werden von Apothekerin Dr. Eva-Maria Wichtmann ausgestattet.
Sie hat heute einen neuen Rettungsrucksack auf die „Antwerpen Express“ gebracht. Im Bordhospital erklärt sie Hendrik Müller und dem Zweiten Offizier Stefan Starystach die Neuheiten. Dazu gehört unter anderem eine Notfallspritze gegen allergische Reaktionen. „Wird das intravenös oder intramuskulär gespritzt?“, fragt Starystach. „Das geht beides. Die Frage zeigt: Es ist wichtig, sich regelmäßig mit den Medikamenten und der Ausrüstung zu beschäftigen und die Beipackzettel zu lesen“, so Dr. Wichtmann. Und das ist durchaus aufwendig: Insgesamt sind es etwa 200 Artikel, die in die Bordapotheke gehören.
Auf der „Antwerpen Express“ ist die Apotheke perfekt ausgestattet. „Wie bei allen Schiffen von Hapag-Lloyd. Das ist aber auch der Anspruch, den das Personal an Bord und ich haben“, so die Apothekerin.
Ob eine Mannschaft gut trainiert ist, sieht Dr. Wichtmann auch daran, dass regelmäßig Medikamente genutzt werden: „Es reicht nicht, wenn ein Offizier darauf achtet, dass im Medizinschrank nichts fehlt. Er muss sich ebenfalls zutrauen, Medizin herauszugeben.“
Auf Schiffen von Hapag-Lloyd ist die Apotheke in einem Normschrank mit einheitlichem Stauplan untergebracht, jedes Medikament kann am selben Platz mit der gleichen Nummer gefunden werden. „Das ist im Notfall ein riesiger Vorteil“, sagt Müller.
Die Apotheke zu betreuen nimmt durchaus Zeit in Anspruch. Denn dazu gehört auch, die Ausrüstung zu testen. Das fängt beim Einschalten der Taschenlampe für den Pupillentest an. „Man muss die Dinge immer wieder in der Hand haben, um sie sofort bedienen zu können“, sagt der Erste Offizier.
Nicht zuletzt schließt Gesundheitsfürsorge auch Psychologie ein. An Bord gibt jeder auf den anderen acht. „Ein vertrautes Mittel, das man auch zu Hause nutzt, kann dieses Gefühl verstärken“, so Müller.
Immer im Blick müssen die Offiziere die Verfalldaten haben, die auf der Inventurliste vermerkt sind. Dr. Wichtmann: „Für die Arzneimittelsicherheit dürfen niemals zwei Packungen desselben Medikaments angebrochen und die Reste später zusammen in eine Schachtel gelegt werden.“
Es kommt sogar vor, dass die Port State Control Chargennummer und Verfalldatum prüft. Wenn da etwas nicht stimmt, drohen empfindliche Strafen. Denn: Arzneimittelsicherheit an Bord – also verlässliche Arzneimittelquelle, eindeutige Kennzeichnung, übersichtliche Lagerung, regelmäßiger Check durch einen Fachapotheker – ist lebenswichtig.
In Notsituationen können sich die Offiziere rund um die Uhr an die funkärztliche Beratung des Telemedical Maritime Assistance Service (TMAS Germany) wenden. Angenommen werden die sogenannten Medico-Gespräche in einem schlichten Büro in der Helios Klinik Cuxhaven: Ein Computer mit zwei Monitoren und ein Telefon sind für die Ärzte der Draht zu den Schiffen auf hoher See – formal vor allem für alle Schiffe unter deutscher Flagge. Aber auch Seeleute anderer Nationen dürfen hier anrufen.
Der Mann, der die Verantwortung für die funkärztliche Beratung trägt, hat eine große Leidenschaft für die Seefahrt – 16 Jahre diente Manuel G. Burkert in der Marine. „Für uns an Land ist es wichtig zu wissen, dass sich eine medizinische Situation an Bord ganz anders entwickeln kann als an Land. Oder was es bedeutet, das erste Mal eine Seekrankheit zu haben“, sagt der Mann mit dem süddeutschen Akzent.
Die Mediziner der funkärztlichen Beratung werden für die Schifffahrt geschult. Vom abgebrochenen Zehennagel bis hin zur Malariaprophylaxe haben sie es mit allen möglichen Fällen zu tun. „Muss ein Patient schnell an Land, empfehle ich auch eine Route. Meist wird unserem Rat gefolgt. Die Entscheidung trifft aber immer der Kapitän“, sagt der Chefarzt und stellt klar: „Allen Gerüchten zum Trotz – an Bord wird nicht operiert. Es geht darum, den Patienten bis zum Eintreffen des Arztes zu stabilisieren und die Schmerzen zu lindern.“
Im Zweifel bleiben die Kollegen und er am Satellitentelefon live dabei. In einem Fall hatte er eine Reanimation begleitet: Ein Seemann war bewusstlos zusammengebrochen und atmete nicht mehr. „Defibrillator, Herzmassage – ich konnte der Crew sagen, wie fest sie auf das Brustbein drücken muss. Am Ende haben wir den Mann stabilisiert“, sagt er. Erst als der Patient wieder ansprechbar war und der Notarzt mit dem Helikopter an Bord kam, legte er auf – der Patient überlebte.
Oft beraten die Mediziner aus Cuxhaven auch bei Medikationen. Auf dem Schreibtisch liegt das Standardwerk: Die „Anleitung zur Krankenfürsorge auf Kauffahrteischiffen“. An Bord der Hapag-Lloyd-Schiffe befindet sich die gleiche Literatur. „Ich kann der Crew genau sagen, auf welchen Seiten sie Behandlung und Medikation nachlesen können“, sagt Burkert. Die Botschaft ist deutlich: „Im Zweifel lieber einmal mehr Kontakt zu uns aufnehmen!“ 913 Patienten wurden 2015 behandelt, und zu jedem Fall gab es sieben bis zehn Kontakte zum Schiff.
Trotz aller Erfahrung sind die Ärzte auf die medizinische Ausbildung der Seeleute angewiesen. Für seine Beratung braucht er die Werte vom Bodycheck, die die Crew möglichst schon vor der telefonischen Anfrage per Mail nach Cuxhaven geschickt hat. „Die Basisbefunde sowie Puls, Blutdruck, Blutzucker und Atemfrequenz ersetzen unsere Sinneswahrnehmungen. Sie sind Grundlage für unsere Empfehlungen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Seeleute das in ihren medizinischen Trainings lernen.“