„Edelmütige Frauentat“: Zwei Langeoogerinnen retteten 1828 die Besatzung eines niederländischen Frachtschiffes aus Seenot – 189 Jahre später wird die Rettungstat durch Originalunterlagen aus dem Staatsarchiv Amsterdam belegt
Jahrzehntelang hat ein Eintrag in einer alten Akte bei der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) zu Rätselraten geführt: Zur Geschichte der Familie Leiß, einer Familie von Seenotrettern der Nordseeinsel Langeoog, stand dort: „1828: Elisabeth Leiß rettet unter Lebensgefahr Besatzung des holländischen Schiffes „De Vrouw Alida“ und wird dafür von der Amsterdamer Stiftung ,Zeemanshoop‘ ausgezeichnet.“ Sollte das stimmen, hätte diese Rettung 33 Jahre vor der Gründung der ersten ostfriesischen Seenotrettungsstation auf Langeoog stattgefunden. Doch außer diesem Eintrag gab es nicht einen Hinweis auf die angebliche Rettungstat.
Am 2. September 1828 erschien in der niederländischen Zeitung „Opregte Haarlemsche Courant“ eine Notiz über den Schiffbruch des niederländischen Kapitäns Klein und seiner Besatzung mit dem Schiff „De Vrouw Alida“. In dem Artikel steht, dass sie von einigen Frauen der Insel „unter großer Lebensgefahr an einem Tau durch die Brandung geschleppt und gerettet wurden“, da „die männlichen Bewohner dazu nicht zu bewegen waren“.
Grace Darling, die 22-jährige Tochter eines englischen Leuchtturmwärters, ist nicht nur Schifffahrtshistorikern bis heute ein Begriff. Der berühmte Dichter William Wordsworth widmete ihr sein Gedicht „Grace Darling“, im englischen Bamburgh gibt es das Grace-Darling-Memorial. Sie wurde als „viktorianische Heldin“ geehrt. 1838 war Grace Darling mit ihrem Vater mit dem Ruderrettungsboot hinausgefahren und hatte neun Schiffbrüchige eines Dampfschiffes vor dem sicheren Tod bewahrt.
Dass auch die DGzRS eine „Grace Darling“ in ihrer Vorgeschichte aufweisen könnte, daran erinnerte jedoch nichts.
Immer mal wieder suchte jemand nach Belegen für die angebliche Rettungstat von Langeoog. Auf der Insel sollte es noch irgendein altes Dokument geben. Doch dabei blieb es. Halbherzige Versuche, die Stiftung ausfindig zu machen, die angeblich einen Preis verliehen hatte, verliefen ebenfalls im Sande.
Nachforschungen in den Niederlanden bringen Gewissheit
Der Journalist Alexander Nortrup hatte ebenfalls von diesem Hinweis gehört. Ihn ließ die Geschichte nicht mehr los. Er begann zu recherchieren, doch auch er blieb zunächst erfolglos. Schließlich wandte er eine wenig erfolgversprechende Methode an: Er rief eine Freundin in Amsterdam an. „Das ist bei mir um die Ecke!“, sagte die emeritierte Professorin, als er sie auf die besagte Stiftung ansprach. Bis heute existiert die Stiftung als „Koninklijk College Zeemannshoop“ in Amsterdam. Der heutige Zweck der Stiftung ist die Unterstützung der niederländischen Seefahrt sowie Bewahrung und Verbreitung ihrer Historie. 1822 war sie jedoch gegründet worden als eine Art Lebensversicherung und Rentenverein für Seeleute.
Alexander Nortrup nahm Kontakt auf mit Wim Grund. Der heutige Bibliothekar der Stiftung erinnerte sich vage, von dem Fall schon einmal gehört zu haben. Alle historischen Akten der Stiftung wurden jedoch schon vor Jahrzehnten dem niederländischen Staatsarchiv übergeben. Nun wurde auch Wim Grund neugierig – die Geschichte war zu ungewöhnlich. Geldgaben der Stiftung gab es normalerweise nur an Mitglieder. Eine Auszahlung an eine Frau auf Langeoog? Das klang zu seltsam.
Ein Besuch im Staatsarchiv brachte schließlich Gewissheit. Wim Grund fand dort die Original-Protokolle einer Stiftungssitzung im Oktober 1828, in der darüber beraten wurde, ob man Elisabeth und Trienke Leiß von Langeoog eine Auszeichnung für ihre Heldentat am 16. August 1828 zukommen lassen sollte.
Mutige Rettungstat in stürmischer Sommernacht
Was genau in jener Sommernacht passierte, wird man wohl nie erfahren. Es war offenbar ziemlich stürmisch am 16. August 1828. Kapitän Derk Hendriks Klein hatte auf seinem Wattensegler „De Vrouw Alida“ Getreide geladen. Das Frachtschiff, laut niederländischen Schifffahrtsarchiven in der flachen, typischen Bauweise, war auf dem Rückweg vom Kornumschlagplatz Neustadt in Holstein nach Amsterdam.
Welches Manöver misslang oder welcher Wetterumschwung die Besatzung überrascht haben mag – man weiß es nicht. Klar ist nur: Die „De Vrouw Alida” geriet in Seenot – vor der Küste von Langeoog. Das Segelschiff schlug leck und sank. Doch die dramatische Geschichte ging gut aus. Elisabeth und Trienke Leiß gelang es, den Niederländern eine Leine durch die Brandung zu bringen, mit dessen Hilfe sie die Besatzung an Land retteten.
Vermutlich waren bei diesem Schiffstyp eine Handvoll Seeleute an Bord – sie alle verdanken ihr Leben der damals 21-jährigen Elisabeth Leiß und Trienke Leiß, vermutlich ihrer Schwester. Die Frauen wurden von der niederländischen Stiftung für ihre Rettung mit 25 Goldstücken – damals eine große Summe – und einem Dankesschreiben ausgezeichnet. Die Stiftung tat dies, obwohl die Havarie an einer ausländischen Küste stattfand und Kapitän Klein gar nicht Mitglied von „Zeemanshoop“ war. „Offenbar erschien den Verantwortlichen in Amsterdam die Tat aber so außergewöhnlich mutig, dass sie die Belohnung über ihre Statuten hinweg entschieden“, sagt Wim Grund. So ist im Protokoll vom Oktober 1828 zu lesen, dass diese „edelmütige Frauentat“ nicht unbelohnt bleiben solle.
Auch später waren Frauen bei Rettungen dabei – wenige Jahre nach Gründung der Rettungsstationen auf den Ostfriesischen Inseln ist im Jahrbuch vermerkt, dass auf Baltrum und Langeoog die Bedienungsmannschaften der Ruderrettungsbootes aus Frauen bestand. In einem Bericht eines Einsatzes von 1867 wird ausdrücklich erwähnt, dass bei 14 Ruderern auch eine Frau dabei war. Der Vormann des Einsatzes hieß übrigens Johann Adam Leiß. Nach ihm gab es so viele Vorleute aus dieser Familie, dass die DGzRS 1985 einen Seenotrettungskreuzer auf den Namen VORMANN LEISS taufte. Seit 2004 ist Gerriet Leiß Vormann der Langeooger Seenotretter. An Elisabeth und Trienke jedoch – die ersten beiden Seenotretter aus der Familie Leiß – hatte sich bislang niemand erinnert.