Das Fahrwasser unter der Verrazano-Brücke ist eng, und ein vollbeladener Gastanker kommt der „Kobe Express“ entgegen. In diesem Moment fällt ohne jede Vorwarnung die Maschine aus – und das ablaufende Wasser drückt das Schiff auf Kollisionskurs. Kapitän Peter Rößler berichtet für Hapag-Lloyd Insights über die kritischsten Minuten seiner Zeit auf See.
Für jeden Kapitän ist es etwas Besonderes, einen amerikanischen Hafen anzulaufen. Damit meine ich nicht nur die Aussicht auf San Francisco oder New York. Die Behörden nehmen es seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sehr genau, und der bürokratische Aufwand ist enorm. Spätestens 96 Stunden vor Ankunft muss das Schiff bei der US-Küstenwache angemeldet werden. Alle Angaben zu Schiff, Ladung und Besatzung sind fehlerfrei zu übermitteln; der kleinste Tippfehler wird nicht akzeptiert und kann mit einem Bußgeld bestraft werden. Im schlimmsten Fall droht ein Einlaufverbot. Es ist auch keine Seltenheit, dass die US-Küstenwache einen Frachter vor dem Hafen aufstoppt, wobei die Beamten oftmals nicht gerade zimperlich mit der Besatzung umgehen.
Ist das Schiff fest an der Pier, kommen neben dem Agenten zuerst Beamte der Einwanderungsbehörde an Bord: Gesichtskontrolle. Jedes Besatzungsmitglied muss sich einzeln vorstellen und Fragen beantworten. Ich habe mehrmals erlebt, dass einem aus der Crew der Landgang verweigert wurde, weil Beamten die Antworten nicht gefielen. Einmal hat sich ein Matrose über diese Behandlung beschwert. Ergebnis: Landgangverbot für das ganze Schiff – und obendrein gültig für alle US-Häfen an der Ostküste. Ich versuchte als Kapitän zu intervenieren. Ohne Erfolg.
Was sich im März 2007 im Hafen von New York mit der „Kobe Express“ (PANMAX-Containerfrachter, 294 Meter lang, 32 Meter breit) ereignete, hätte in vielfacher Hinsicht zu einem Albtraum werden können.
Es war eine schwierige Reise gewesen, die in Bremerhaven begann. Nach Rotterdam waren wir in die Ausläufer des Orkans „Kyrill“ geraten, mit enormem Schwell und sehr hoher See. Mit vier Tagen Verspätung kamen wir in Halifax an. Die Reise ging weiter entlang der Ostküste der USA, durch den Panamakanal, entlang der amerikanischen Westküste und dann von San Francisco nach Japan bis zum Zielhafen Hongkong. Das Schweröl, das wir dort gebunkert hatten, bereitete uns auf der Rückreise Probleme. Ständig setzten sich die Filter zu, weil der Brennstoff mangelhaft war. Die Maschinenbesatzung bekam das Problem aber in den Griff.
Ich machte mir darüber jedenfalls keine Gedanken, als wir aus New York ausliefen und alle Umschlagarbeiten pünktlich abschlossen waren. Ich studierte die Wetterberichte für die Atlantik-Überquerung. Ruhiges Wetter wurde angesagt, Rückenwind. Wir lagen im Fahrplan, ich freute mich auf zu Hause. Es war ein ruhiger Sonntag, dieser 17. März, leicht fiel der Schnee auf die Häuser von New York. „Maschine klar“, meldete der Leitende Ingenieur, der Lotse kam an Bord. Um 21 Uhr verließen wir unseren Liegeplatz am Global Terminal.
Was ich nicht ahnen konnte: Nun begannen einige der aufregendsten Stunden meiner Laufbahn.
Mit Hilfe zweier Schlepper hatten wir die „Kobe Express“ gedreht und nahmen Fahrt auf, in den betonnten Ambrose-Kanal. Ein großer Gastanker kam uns entgegen. Um ausreichend Abstand zu haben, hielten wir uns mit der Steuerbordseite nahe am rechten Tonnenstrich, ganz langsame Fahrt. Um exakt 22.04 Uhr passierten wir die Verrazano-Brücke, die Staten Island und Brooklyn verbindet. Kurz darauf bemerkte ich, dass eine gewaltige Dampfwolke aus unserem Schornstein aufstieg. Ich wunderte mich und trat hinaus auf die Brückennock, um zu sehen, was los war. Es war exakt 22.14 Uhr, als ich auf die Brücke zurück kam und die Maschine ausfiel. Ohne Alarm, ohne Vorzeichen. Sofort versuchte ich, sie von der Brücke wieder zu starten.
„Schiff lässt sich nicht mehr steuern“, meldete der Rudergänger. „Schiff läuft aus dem Ruder!“
Das ablaufende Wasser drehte die „Kobe Express“ nach Backbord und direkt auf den Gastanker zu, der schon ganz nahe war. Ein kritischer Moment! Doch ich hatte schon andere kritische Momente erlebt.
Das Expeditionskreuzfahrtschiff „MS World Discoverer“, auf dem ich als Erster Offizier fuhr, strandete im April 2000 auf den Salomonen, als das Schiff auf ein Riff lief, das so in keiner Seekarte eingezeichnet war. Der Kapitän setzte das leckgeschlagene Schiff in der Notlage gezielt auf einen Strand in der Roderick Dhu Bay. Alle Passagiere überlebten unverletzt; ich blieb zusammen mit dem Kapitän und dem Zweiten noch eine Wochen lang an Bord des Havaristen, um Plünderungen zu verhindern. Wir hausten auf zwei Rettungsbooten, die wir zusammengebunden hatten und hielten abwechselnd Wache. Was für ein Abenteuer, besonders in der Nacht, wenn sich eine unheimliche Stille über die Bucht legte. Die Bergungsversuche mussten abgebrochen werden, als sich etwa einhundert bewaffnete Rebellen auf den Weg machten, um den Havaristen zu plündern.
Ähnlich schlimm hätte es nur sieben Monate später kommen können, im Februar 2001. Ich fuhr als Erster Offizier auf dem Kreuzfahrtschiff „MS Bremen“, als eine Monsterwelle das Schiff in einem Orkan auf dem Südatlantik traf. Der Sturm blies in Böen mit mehr als einhundertfünfunddreißig Knoten, ich hatte so etwas noch nie vorher erlebt. Die Wellenhöhe schätzten wir auf mehr als fünfzehn Meter. Gegen 6:20 Uhr auf Position 45°54’S und 38°58’W setzte die „Bremen“ zweimal kurz hintereinander stark ein. Das Schiff kippte in ein Wellental –und dann sahen wir vor uns eine gewaltige Wand aus Wasser. Vielleicht dreißig Meter hoch, wir konnten das in der kurzen Zeit nur sehr schwer einschätzen.
Die „Bremen“ fuhr direkt in die Welle hinein. Ich stand in diesem Moment vor dem großen Mittelfenster der Brücke. Es gab einen gewaltigen Schlag, ein Krachen, als die Scheibe brach. Ich wurde vom eindringenden Wasser weggespült und durchschlug eines der Wandpanele im hinteren Teil der Brücke. Zum Glück blieb ich bis auf ein paar blaue Flecke unverletzt. Die Brücke stand einen Meter hoch unter Wasser. Ich hatte Mühe, auf die Beine zu kommen.
Sämtliche Geräte vom Radar übers Echolot bis zum Kreiselkompass waren ausgefallen, Alarme piepten, Rauch stieg aus der Brückenkonsole auf. Die „MS Bremen“ lag manövrierunfähig quer in der schweren See. Mehrfach holte das Schiff mit extremer Schlagseite über. Es gelang dem Bootsmann und zwei Matrosen, das zerschlagene Fenster durch eine Holzplatte abzudichten. Eine halbe Stunde später waren die Maschinen wieder klar und wir konnten den Bug mit langsamer Fahrt wieder in die anrollende See drehen. Der Sturm flaute ab, und wir liefen Buenos Aires als Nothafen an.
Doch zurück hinter die Verrazano-Brücke, wo es nun knifflig wurde. Der große Gastanker kam immer näher. Der Lotse, ein groß gewachsener, hagerer Mann, vielleicht Anfang 40, schrie wilde Kommandos über die Brücke. Doch noch ein Kontrollverlust brachte uns in diesem Moment nicht weiter. Ich überlegte, was zu tun war und rief im Maschinenkontrollraum an.
„Können wir vom Notfahrstand starten?“, fragte ich den Leitenden Ingenieur. Er versuchte es, doch die Maschine sprang nicht an. Über das UKW-Gerät hörte ich die aufgeregten Stimmen meines Kollegen auf dem Gastanker und dessen Lotsen. Es kam nun auf jede Sekunde an.
Die Brückenuhr zeigte 22:19 Uhr.
„Anker an Steuerbord fallen lassen, fünf Kettenlängen!“, befahl ich.
Wenig später wurde das Schiff regelrecht nach Steuerbord gerissen und stoppte ab, doch das Heck drehte mit schneller Geschwindigkeit auf den voll beladenen Gasttanker zu. Ich ließ den Backbord-Anker fallen. Das Manöver gelang, die starke Drehung der „Kobe Express“ wurde gestoppt.
Mit einem Abstand von weniger als hundert Metern passierte der Gastanker unser Heck. Welche Folgen es gehabt hätte, wenn es zu einer Kollision und womöglich zu einer Explosion des Gastankers gekommen wäre? In unmittelbarer Nähe der stark befahrenen Brücke zwischen Staten Island und Brooklyn? Ich mag es mir nicht vorstellen.
Ich atmete auf, doch nur kurz. Denn wir lagen noch immer ohne Maschine und mit zwei Ankern vor New York quer im Fahrwasser des Kanals. Der auslaufende Strom drückte uns vollständig um die eigene Achse. Der Lotse hatte sich etwas beruhigt und Kontakt zu vier Schleppern aufgenommen, die uns zu einem Ankerplatz bringen sollten. Ich ließ beide Anker hieven, und um 23:20 Uhr meldete der Leitende Ingenieur, dass die Maschine wieder lief. Ich gab „langsame Fahrt“ zurück, die Schlepper zogen.
Doch nichts geschah.
Wir saßen fest, vor New York City, außerhalb des Fahrwassers bei Tonne 19, auf 40°34, 2’N und 074°02, 3’W, um ganz genau zu sein.
Mit einem Schiff auf Grund zu liegen, ist für jeden Kapitän eine unangenehme Sache. Mit einem Schiff vor einem amerikanischen Hafen festzukommen, ist ein Fiasko. Ich ließ sofort alle Tanks von Ballastwasser und Treibstoff peilen, um zu sehen, ob wir ein Leck hatten. Keine Veränderung, das war schon mal gut. Waren Ruder und Propeller frei? Mit einem Handlot ließ ich die Wassertiefe rund um das Schiff messen. Ergebnis: Die „Kobe Express“ lag mit dem vorderen Viertel der Backbordseite auf einer Sandbank. Ich unternahm erneut einen vorsichtigen Versuch, aus eigener Kraft loszukommen, doch das große Schiff rührte sich keinen Meter. Das nächste Hochwasser war erst für die Morgenstunden angekündigt. Wir mussten warten.
Ein Boot der Küstenwache traf ein. Ich stellte mich auf fluchende Hilfssheriffs ein, doch zu meiner Überraschung kamen zwei freundliche, junge Damen auf die Brücke. Nachdem ich ihnen versicherte, dass kein Öl austrat, halfen sie mir, diverse Fragebögen auszufüllen und nahmen meine Aussage zu Protokoll. Auf einen Test nach Alkohol oder Drogen verzichteten sie ebenso wie auf die Befragung weiterer Crew-Mitglieder. Bevor sie sich verabschiedeten, händigten mir die Damen ein Schreiben des Hafenkapitäns aus: Bis die Ursache des Maschinenausfalls nicht geklärt war und das Schiff von der Klassifikationsgesellschaft besichtigt wurde, durften wir New York nicht verlassen.
Kurz nach vier Uhr kam Bewegung ins Schiff. Kurz darauf drehte es langsam über die Steuerbordseite ins Fahrwasser, und etwa eine halbe Stunde später entschied ich, dass es Zeit für einen neuen Befreiungsversuch war. „Langsame Fahrt zurück!“ Und tatsächlich: Die „Kobe Express“ schob sich frei. Um 5:30 Uhr erreichten wir Gravesand-Reede und gingen vor Anker. Ich wollte mich gerade ein wenig hinlegen, bevor der Besichtiger des Germanischen Lloyds an Bord kommen wollte, den die Agentur noch in der Nacht bestellt hatte, als der Leitende Ingenieur auf die Brücke kam. „Ursache des Ausfalls war ein Wassernest im Tagestank“, sagte er.
Einige Stunden später bestätigte der Sachverständige diese Einschätzung und ebenso, dass die Maschine wieder voll einsatzbereit war. Auf der Brücke herrschte dennoch Nervosität, denn Taucher waren im Wasser, um den Rumpf zu untersuchen. Hatte das Schiff Schäden davon getragen? Gab es etwa Risse? Ich war einigermaßen nervös, als die Männer auf die Brücke kamen. Mit guten Nachrichten: Sie hatten nicht mal Beulen festgestellt, sondern nur ein paar Kratzer entdeckt. Das Schiff war ohne Einschränkungen seetüchtig. Ich ließ mir meine Erleichterung nicht anmerken und begann mit der Schreibarbeit, denn nun galt es, Stapel von Formularen auszufüllen.
Noch einmal kamen Beamte der Küstenwache an Bord, ließen sich zeigen, dass die Maschine einwandfrei lief und sammelten die Papiere ein. Um 17 Uhr verließen Besichtiger, Taucher und Beamte das Schiff. Keine anderthalb Stunden später klingelte das Fax-Gerät: Die Freigabe des Hafenkapitäns lag vor. Wir hievten die Anker und setzten Kurs auf Halifax, Nova Scotia.
Ich war noch nie so froh, New York zu verlassen, wie an diesem Abend.
Quelle: Hapag-Lloyd