Vor 40 Jahren kehrte der Hapag-Frachter „Münsterland“ nach Hamburg zurück. Das Schiff war mehr als acht Jahre im Suezkanal festgehalten worden.
Die Löschboote der Hamburger Feuerwehr sprühten Wasserfontänen, eine Armada an Sportbooten, Barkassen und Ausflugsdampfern bevölkerte die Elbe, an den Landungsbrücken und am Elbufer drängten sich Hunderttausende: „So etwas ist ja wohl noch nicht dagewesen,“ staunte Helmut Raasch, als sein Schiff in den Hamburger Hafen einlief. Zu Land und zu Wasser blickte der Kapitän der „Münsterland“ an jenem Mai-Sonntag 1975 auf „eines der größten Schauspiele, die der Hafen je erlebte“. Dabei galt der spektakuläre Empfang lediglich zwei Frachtern: der „Nordwind“ der Nordstern-Reederei und eben der 9365 Bruttoregistertonnen großen, 157 Meter langen „Münsterland“ der Hapag. Es war das Schicksal der beiden konventionellen Frachter, das so viele Menschen bewegte: Sie kehrten von der längsten verbürgten Reise der Schifffahrtsgeschichte zurück.
Die „Münsterland“ hatte 1967 eigentlich von Australien nach Hamburg fahren sollen, und war dann jedoch genau acht Jahre, drei Monate und fünf Tage unterwegs gewesen. Mit 13 weiteren Schiffen aus acht Nationen wurde sie festgesetzt auf dem Großen Bittersee im gesperrten Suezkanal, als Faustpfand im Nahostkonflikt. Bis heute ist das eine der bewegendsten Episoden der Schifffahrtsgeschichte – nicht nur der ungewöhnlichen Fakten wegen, sondern vor allem, weil es den Besatzungen der Schiffe über Jahre hinweg gelang, das Prinzip Hoffnung zu leben, Kameradschaft und gegenseitige Hilfe, bei aller Ausweglosigkeit. Die Great Bitter Lake Association, wie sich die Gemeinschaft der Seeleute aus Ost und West nannte, stand damit im scharfen Kontrast zu den Konflikten und Kriegen um sie herum im Nahen Osten.
Wie heute stellte der 1869 eröffnete Suezkanal, der auf mehr als 160 Kilometern Länge das Mittelmeer über den Isthmus von Suez mit dem Roten Meer verbindet, eine der wichtigsten Schifffahrtsverbindungen der Welt dar. Der Kanal markierte im so genannten Sechstagekrieg von Juni 1967 an die Grenze zwischen Israel und Ägypten: Israel war im Zuge seines Blitz-Angriffes bis zum Kanal vorgerückt und besetzte sein Ostufer vollständig. Der „Kalte Krieg“, der Ost-West-Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA hielt damals die Welt in Atem. Am Suezkanal gerieten dann in einem Stellvertreter-Konflikt Anfang Juni 1967 die Besatzungen der 14 Frachter in die Mühlen der großen Politik: Ägypten hielt sie auf dem Bittersee fest, der Ausweg in den Suezkanal wurde mit versenkten Schiffen blockiert.
In der umkämpften Region als Zeugen von Angriffen und Gräueltaten, im Angesicht von verwundeten und toten Soldaten, lebten die eingeschlossenen Seeleute wie eine Art Gegenmodell von Anfang an ganz selbstverständlich die berühmte „brotherhood of the sea“: Die Besatzungen der Schiffe aus Ost wie West lernen einander kennen und schätzen. Sie beweisen, dass friedliches Zusammenleben jenseits aller Ideologien möglich ist. Unter einer selbst entworfenen Flagge, einem Dreieck mit zwei blauen und einem weißen Streifen, dazu einem Anker und der Zahl „14“, lebten unterschiedliche Menschen, zufällig zusammengeführt zwischen den Fronten, buchstäblich in einem Boot. Dass dies so gut gelang, lag sicher zu einem entscheidenden Teil auch daran, dass sich auf dem Bittersee eben Seeleute trafen. Angehörige einer Berufsgruppe also, für die wie nur für wenige sonst das konstruktive, kameradschaftliche Miteinander-Leben zu den Selbstverständlichkeiten gehört. Kapitäne und Mannschaften aller 14 Schiffe schlossen sich im Herbst 1967 auf Initiative des britischen Kapitäns Jim Starkey zusammen. Zweck der “kleinen UNO”, wie einer der Beteiligten die multinationale Schicksalsgemeinschaft nannte: Freundschaft und gegenseitige Hilfe.
Die war bald notwendig, denn nach einigen Wochen wurde ein Teil der Besatzungen abgezogen. Der Rest wechselte fortan in halbjährlichem Turnus. Sobald abzusehen war, dass die Gefangenschaft lange dauern würde, legten die Besatzungen die Schiffe gruppenweise aneinander und hielten sie fortan gemeinsam instand. Da gab es trotz der Zwangspause reichlich zu tun: „Das Schiff musste vor allem gegen das sehr salzhaltige Wasser konserviert werden“, erinnerte sich Dirk Moldenhauer, damals als Erster Offizier auf die „Münsterland“ geschickt. „Bei Außentemperaturen um 50 Grad Celsius haben wir das Ladegeschirr eingefettet und den Zustand der Diesel, des Ruders und der Schiffsschraube überprüft. Und einmal im Monat ging’s mit Volldampf den See rauf und runter, damit die Maschine sich nicht festsetzt.“
Über acht Jahre hinweg waren es schließlich insgesamt 3000 Männer, die auf dem Bittersee friedlich zusammenlebten. Viele Verbindungen, die damals geknüpft wurden, haben bis heute gehalten. „Jeder gab, was er hatte“, erinnerte sich ein deutscher Seemann. „Wir hatten selbst nichts, haben aber alle eingeladen.“ Bis schließlich Nachschub eintraf, der quer durchs Kriegsgebiet herbeigeschafft werden musste, teilten sich die Männer erst den Proviant aller Schiffe und später die verderbliche Ladung. Die „Münsterland“ etwa hatte Fleisch, Eier und Obst aus Australien an Bord.
Auch sonst machten die Crews das Beste aus der festgefahrenen Situation. Unter den Augen der verfeindeten Nahostparteien gab es auf dem Bittersee internationale Kostümfeste, ein Speedboat ermöglichte Wasserski für alle, Beiboote wurden als Segeljollen für Regatten aufgetakelt. 1968 war Olympiajahr, also veranstaltete die GBLA „Djakarta“ eigene Bittersee-Spiele, für die die polnischen Kollegen eigens Medaillen schmiedeten. Unter den Disziplinen waren Rudern und Gewichtheben, Schwimmen und Kunstspringen, Tischtennis und nicht zu vergessen Fußball, für den ein Deck der britischen „Port Invercargill“ in ein improvisiertes Stadion verwandelt wurde.
In der Hamburger Zentrale hatte niemand die „Münsterland“ aufgegeben. Statt es als Versicherungsfall abzuschreiben und verrotten zu lassen, wie es sich angeboten hätte, wurde das Schiff über all die Jahre hinweg fahrtüchtig gehalten. Wie ein Symbol der Hoffnung, dass die Blockade eines Tages enden musste. Sie endete schließlich im Mai 1975, und mit ihr die Gefangenschaft der 14 Handelsschiffe. Israel hatte sich in einem Waffenstillstandsabkommen unter anderem verpflichtet, sich auf den Sinai zurück zu ziehen. Damit war der Suezkanal wieder komplett unter ägyptischer Kontrolle. Die beiden deutschen Frachter waren die einzigen, die den Bittersee aus eigener Kraft verlassen konnten.
Der große Empfang am Schuppen 73 im Freihafen im Mai 1975 war jedoch auch so etwas wie eine Abschiedsgala für die konventionelle Frachtschifffahrt, die den Hamburger Hafen jahrhundertelang geprägt hatte. Die Ära der konventionellen Frachter, zu deren Spitzenschiffen sie bei Antritt ihrer Rekordreise gezählt hat, war bei ihrer Rückkehr beinahe zu Ende. Binnen weniger Jahre setzte sich der Container durch. 1978 wurde die „Münsterland“ verkauft. Ihre erste Fahrt nach jener längsten Reise aber trat das Schiff schon im Juli 1975 wieder an: von Hamburg nach Korea – und damit auch wieder durch den Suezkanal.