Tallink hat sich in den letzten 30 Jahren vom Underdog zur größten Kreuzfahrtfährreederei im Ostseeraum gemausert. Impressionen aus dem Jubiläumsjahr.
Begonnen hatte alles ganz klein. Im Zuge von Glasnost und Perestroika wurde Ende der 1980er Jahre auch im damals sowjetischen Tallinn der Eiserne Vorhang löchrig, und es starteten erste Initiativen für einen kommerziellen Fährverkehr nach Helsinki. Tallink wurde 1989 gegründet, zunächst noch als Gemeinschaftsunternehmen zwischen der sowjetisch-estnischen Staatsreederei ESCO und privaten finnischen Interessenten. Das erste Schiff der Reederei war im Januar 1990 die kleine TALLINK, ein 1972 gebautes ehemaliges amerikanisches Kurzkreuzfahrtschiff mit Ostseefähr-Vergangenheit. Ihr zur Seite gestellt wurde eine Frachtfähre, doch so richtig Fahrt nahm der neue Fährdienst erst auf, als Estland im August 1991 seine Unabhängigkeit erklärte und nach dem endgültigen Ende des Kalten Krieges die Reisebeschränkungen wegfielen. Nun kam mit der GEORG OTS eine zweite Autofähre unter das Tallink-Dach, die bis dahin noch für die ESCO separat zwischen Helsinki und Tallinn gefahren war.
In der Folge wurde Tallink zu einem rein estnischen Unternehmen. Mit der SAINT PATRICK II, CORBIERE und VANA TALLINN unterstützten weitere Second Hand-Fähren den Fährverkehr nach Helsinki, wobei die VANA TALLINN ab 1994 erstmals auch eintägige Minikreuzfahrten zwischen den beiden nordischen Hauptstädten unternahm. Außerdem setzte Tallink nun Tragflächenboote auf der Route ein, da immer mehr Geschäftsleute eine möglichst schnelle Verbindung zwischen den beiden Häfen forderten. Einen Direktdienst zwischen Tallinn und Travemünde eröffnete im Mai 1994 die BALANGA QUEEN, während der Südhafen Helsinkis, wo traditionell die großen Nachtfähren nach Stockholm an- und ablegten, 1995 aus allen Nähten platzte. Tallink zog auf finnischer Seite in den Westhafen um.
Kreuzfahrt-Feeling
An einem Februarnachmittag im Jahr 2020 sollte man dort eigentlich Minikreuzfahrt-Atmosphäre erwarten. Ehepaare, die sich eine Auszeit vom Familienalltag gönnen, Rentnergruppen, verliebte Mittzwanziger. Doch falsch gedacht. Es ist Samstagabend, und zufällig genau jenes Wochenende im Februar, an dem die finnischen Abiturienten ihre Schulzeit abgeschlossen haben. Die eigentlichen Abiturprüfungen stehen ihnen zwar im März erst noch bevor, gefeiert wird aber trotzdem schon mal. „Penkinpainajaiset“ heißt das auf Finnisch, im Fährterminal wird dazu, so die überall aufgehängten Poster, die „Abiristeilyt“: Abi-Kreuzfahrt. Na das kann ja heiter werden.
Entsprechend laut geht es daher zu, als die Abiturienten eintreffen. Erst nur vereinzelt, doch dann in immer größerer Gruppenstärke, je näher die Abfahrt der VICTORIA I rückt. Ausnahmslos fröhlich sind sie, teilweise bereits bierselig, und singen „Hey Macarena“. Dabei ist die VICTORIA I erst vor ein paar Tagen kurzfristig für SILJA EUROPA eingesprungen, die eigentlich auf der Minikreuzfahrt-Verbindung nach Tallinn verkehrt, jetzt gerade aber wegen eines fehlenden Ersatzteils länger als geplant in der Werft bleiben muss. Was jedoch für die Reederei ein Alptraum gewesen sein muss (nämlich die Passagiere der ausgebuchten SILJA EUROPA auf die kleinere VICTORIA I umzubuchen), hat für uns einen Vorteil: Wir dürfen statt der gebuchten Außenkabine die „Admiral Suite“ beziehen! Es ist zusammen mit vier weiteren dieser Art die größte und teuerste Kabine auf dem ganzen Schiff und lässt ihr Pendant auf so manchem Kreuzfahrer alt aussehen. Knapp 30 m² groß, steht den Gästen hier ein riesiges Doppelbett zur Verfügung, dazu eine Sitzgruppe, Schrank, Dusche/WC, Fön, TV, Telefon und eine Minibar. Das Spezialfrühstück (im edlen Grill- anstatt im großen Büffetrestaurant) und die Getränke aus der Minibar sind im Preis inbegriffen, wozu auch eine Flasche Sekt gehört. Auch eine Schale frisches Obst steht auf der Anrichte, und die großen Fenster blicken direkt über den Bug. Mit mehr Kreuzfahrt-Feeling kann der Kurztrip nach Tallinn nicht starten.
Die größte Fährreederei der Ostsee
In den Anfangstagen stand Tallink der Sinn noch nicht nach Kreuzfahrten. In der nördlichen Ostsee war der traditionellen Fährklientel nach dem Untergang der ESTONIA 1994 die Lust auf Schiffsreisen zunächst gründlich vergangen, und auch mit der Eröffnung der Linie Kapellskär – Paldiski 1997 setzte Tallink mehr auf den Fracht- als auf den Passagiermarkt. Im selben Jahr wurde Tallink privatisiert, und größere Schiffe ersetzten nun die kleinen Charterfähren aus den ersten Jahren: 1996 die MELOODIA, 1997 die NORMANDY und 1998 die FANTAASIA. Ab 1999 kamen zwischen Tallinn und Helsinki außerdem Schnellfähren mit Auto-Kapazität anstelle der Tragflächenboote zum Einsatz, die bisher ausschließlich Personen befördern konnten. Nachtfähren bekamen bei Tallink erst eine größere Bedeutung, als die Reederei 2001 den Betrieb der Reederei Estline auf der Route Stockholm – Tallinn übernahm. Die REGINA BALTICA und die BALTIC KRISTINA stießen nun zur Flotte hinzu, und nur ein Jahr später gab es bei der Reederei erneut Anlass zum Feiern: Mit der ROMANTIKA konnte Tallink seinen ersten Neubau in Dienst stellen. Er übernahm zunächst die populären 24h-Kreuzfahrten zwischen Tallinn und Helsinki, doch ein Schwesterschiff war bereits ebenfalls im Bau. Hier beschriebene VICTORIA I nämlich, die im Jahr des Beitritts Estlands zur EU 2004 ihren Dienst auf der Nachtroute Tallinn – Stockholm aufnahm. 2005 notierte Tallink an der Tallinner Börse, und mit frischem Kapital ausgestattet, nahm die Expansion jetzt immer rasantere Formen an. 2006 nahm Tallink die Nachtroute Stockholm – Riga ins Programm (mit zunächst einem Schiff und Abfahrten alle zwei Tage), stellte mit der GALAXY einen dritten Neubau in Dienst und übernahm nicht nur für 310 Mio. € den Ostseedienst (Rostock – Finnland) und die Fähren von Superfast Ferries, sondern für weitere 470 Mio. € auch noch die mächtige Silja Line, wobei Tallink die Marken Tallink und Silja Line bis heute getrennt führt. Mit der auf 22 Schiffe gewachsenen Flotte war Tallink (genaugenommen die neue „Tallink Grupp“) nun die größte Fährreederei in der Ostsee.
Steh- und andere -Partys
Doch zurück an Bord der VICTORIA I. Viel Zeit, es sich in der Suite gemütlich zu machen, bleibt fürs erste nicht. Denn noch bevor das Schiff mit 2.250 Abiturienten an Bord um 18:30 Uhr ablegt, öffnet das „Grande Buffet“-Restaurant auf Deck 7 seine Pforten. Und das entpuppt sich als fulminant: Ohne das obligatorische Schlangestehen geht es zwar nicht, doch die Speisen sind frisch, heiß und abwechslungsreich. Vegetarier kommen hier genauso auf ihre Kosten wie die Liebhaber von Fleisch und Fisch, und auch an Kuchen und Nachtisch mangelt es nicht. 466 Gäste fasst das Restaurant, weshalb sich zwar niemand beim Essen zu beeilen braucht, aber eben auch nicht zu spät kommen sollte. Denn geöffnet ist das „Grande Buffet“ zunächst nur bis 19:45 Uhr. Dann wird ab- und neu eingedeckt, ehe um 20:30 Uhr die zweite Sitzung beginnt.
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die VICTORIA I irgendwo auf halber Strecke zwischen Helsinki und Tallinn. Die Schülerinnen haben sich mittlerweile für den Abend aufgebrezelt, in vollem Gange ist die Party aber noch nicht. Die Disco ist noch leer, und die meisten Abiturienten haben sich, wenn sie nicht mit Essen oder Verdauen beschäftigt sind, in Kleingruppen zusammengerottet, die dem Rest der Passagiere vor allem im Weg stehen, vorzugsweise auf Treppen oder vor den Türen. Dabei haben sie die komplette Starlight Show Lounge am Heck des Schiffes für sich. „Sorry, private party“ steht dort auf einem Schild am Eingang. Die allabendliche Show fällt heute also aus, denn die Abi Cruise hat ihr eigenes Showprogramm. Wer sich nicht entsprechend ausweisen kann, den zieht es ins gemütliche „Sea Pub“ auf der Arkade. Ein erster einsamer Karaoke-Sänger gibt dort sein Bestes, im Laufe des Abends übernimmt aber ein professioneller Troubadour das Unterhaltungsprogramm.
Um 22 Uhr legt die VICTORIA I in Tallinn an. Die wenigen Passagiere, die die 3,5 h-Überfahrt als normale Fährpassage gebucht haben, verlassen das Schiff, für die Kreuzfahrtgäste dagegen ist erst morgen früh eine Ausschiffung möglich. Sie haben die VICTORIA I jetzt für sich. Das Sea Pub macht derweil Pause, das Bordleben konzentriert sich auf die Starlight Lounge, wo die Abiturienten unter sich sind. Wir überlassen das Schiff in diesen Minuten den Schülern. „Antizyklisch reisen“ heißt das Zauberwort: (vor-)schlafen, während die Teenager Party machen und die Ruhe im halbleeren Schiff genießen, wenn sie morgen Vormittag ihren Rausch ausschlafen. Gute Nacht!
Shuttle- und Kreuzfahrtfähren
Die STAR, die bei unserer Ankunft noch neben uns gelegen hatte, hat den Hafen inzwischen wieder verlassen. Fast rund um die Uhr pendeln die Tallink-Fähren zwischen den Hauptstädten Estlands und Finnlands. Die STAR war 2007 zur Tallink-Flotte gestoßen. Sie war als Shuttle-Fähre gebaut, sollte also mit ihrer vergleichsweise hohen Geschwindigkeit die Schnellfähren auf der Route Tallinn – Helsinki überflüssig machen, ohne dass die Passagiere an Bord auf Komfort verzichten mussten. Auf diese Weise waren nun die Tage älterer Second Hand-Fähren auf der Route endgültig gezählt. Als 2008 die zweite Shuttle-Fähre SUPERSTAR ihren Dienst aufnahm, waren nicht nur die vier rot-blauen „Flitzer“ mit dem Namen TALLINK AUTOEXPRESS Geschichte, sondern auch der 1970er Jahre-Charme einer MELOODIA und einer FANTAASIA. Dafür gab es ab demselben Jahr tägliche Abfahrten zwischen Stockholm und Riga – eine weitere Minikreuzfahrt-Verbindung also, da man nun in jedem der Häfen einen halben Tag Landgang hatte, ehe es am frühen Abend wieder über Nacht zurück in den Ausgangshafen ging. Auch zwei weitere Kreuzfahrtfähren nahm Tallink in dieser Phase der rapiden Expansion in Dienst: die BALTIC PRINCESS (2008) und die BALTIC QUEEN (2009), beides Schwesterschiffe der 2006 gebauten GALAXY. Die BALTIC QUEEN blieb allerdings für einige Jahre der letzte Schiffsneubau bei Tallink. Schwer verschuldet, standen die Zeichen nun erst einmal auf Konsolidierung. So wurde 2011 die Route Rostock – Helsinki eingestellt, und ältere Schiffe wie die VANA TALLINN, REGINA BALTICA und SILJA FESTIVAL wurden verkauft. Einziger Neuzugang in jener Zeit war die ISABELLE, die 2013 den Dienst zwischen Stockholm und Riga verstärkte. Auch sie war allerdings kein Neubau, sondern eine alte Bekannte: die ISABELLA des Konkurrenten Viking Line, die bereits seit knapp 25 Jahren zwischen Stockholm und Turku bzw. Helsinki gefahren war.
Der Morgen danach
Auf der VICTORIA I schläft es sich derweil herrlich in Suite 9201. Die Schiffsmotoren sind aus, die Starlight Lounge ist weit weg, und kein Kind muss früh raus zur Schule, zum Schwimmwettkampf oder zum Gottesdienst. Gut, die Sonne könnte scheinen und uns mit den ersten Strahlen des Tages wecken. Tut sie aber nicht; dicke graue Wolken hängen stattdessen über Tallinn. Also erstmal in Ruhe frühstücken, erst um um 8:30 Uhr verlassen wir das Schiff zum Landgang. Bis um kurz nach 12 Uhr können die Minikreuzfahrtgäste von Bord gehen, genau die richtige Zeitspanne für einen Spaziergang durch das winterliche Tallinn. Einmal inmitten der über 700 Jahre alten Stadtmauern angekommen, fängt einen der Charme Tallinns sofort wieder ein, auch wenn man die Stadt bisher vor allem während der warmen Sommermonate kennen- und lieben gelernt hat.
„Viihtyisää matkaa“ (Gute Fahrt) wünscht das Bordprogramm in fettgedruckter Schrift um 12:30 Uhr – dem Zeitpunkt der Abfahrt zurück nach Helsinki. Die Kalorien vom Frühstück in die Besteigung des Dombergs zu Tallinn umgesetzt, ist am frühen Nachmittag der Hunger zurückgekehrt, und auch zur Mittagszeit ist die Auswahl im „Grande Buffet“-Restaurant wieder groß und die Qualität der Speisen erstklassig. An den Stationen ist für jeden etwas dabei, auch die Palette an Gemüse und Salaten ist enorm. „Green Market“ („100% vegan“) und „Meat Market“ führen hier eine friedliche Koexistenz, Tallink möchte ein „gesundes und nachhaltiges Nahrungserlebnis“ schaffen. Nur das Vanille-Eis schmeckt verdächtig nach „Mini Milk“, jenem Eis-Klassiker am Stiel, der seit den 1980er Jahren in keiner Eistruhe fehlen darf. Sogar ein bisschen Nostalgie gibt es also mit dazu.
Das gilt auch für den Tax Free Shop. Neben den üblichen Spirituosen und Zigaretten gibt es hier Tallink-Jubiläumsschokolade zu kaufen. „Tallink 30 Years“ steht darauf, neben Bildern von Tallink-Fähren, die längst verschrottet sind oder den berühmten Weg in die „wärmeren Gewässer“ angetreten haben. Die GEORG OTS z. B., der Pionier aus den Anfangstagen der Reederei in den 1990er Jahren, als im Schornstein das Logo der ESCO prangte. Oder bereits erwähnte VANA TALLINN, jene liebenswerte ehemalige Nordseefähre aus den 1970er Jahren, auf der der Autor eine traumhafte Minikreuzfahrt von Stockholm nach Riga und zurück verbringen durfte. An LNG (wie auf der neuesten Tallink-Fähre MEGASTAR), Landstrom und vegane Büffets war damals freilich noch nicht zu denken. So ändern sich die Zeiten.
Auch der Trubadour im Sea Pub ist im Jahr 2020 eine Sie. „Sanna K“ heißt sie, ist genauso jung und dynamisch wie ihr Publikum und singt „Charma Chameleon“ mit einem Charme, der einen das graue Winterwetter draußen für einen Moment vergessen lässt. Die Piano Bar ist unterdessen zu einer Violinen-Bar mutiert, hier spielt das „Duo Saluveer“ Melodien, die einen in Gedanken aus dem Arbeitsalltag oder aus der anstehenden Prüfungsvorbereitung auf das Abitur holen. Vor den Fenstern an der Arkade überholt uns am Nachmittag die MEGASTAR, jene Shuttle-Fähre, die in Tallinn nach uns abgelegt hat, in Helsinki aber vor uns ankommen wird. Eine Route, drei Schiffe, zwei Konzepte – auch das funktioniert 30 Jahre nach Reedereigründung im Hause Tallink wunderbar.